Fleischexperiment

Etwas über Bertolt Brechts ‚Ästhetik des Hungers’ und die Performance FatzerBraz

 

Etwas über Bertolt Brechts ‚Ästhetik des Hungers’ und die Performance FatzerBraz

 

Links, 2, 3: „Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Fressen, bitte sehr!“ (Einheitsfrontlied) Dass der Mensch vordringt zu der Kenntnis, dass zu erst das Essen kommt verkündet auch Johann Fatzer in einer großen Rede vor seinen Kameraden und verspricht ihnen, Fleisch zu besorgen. Auffällig ist dabei, dass im ganzen Stück dauernd das Wort ‚Fleisch’ statt ‚Essen’ benutzt wird. Dabei unterscheidet die deutsche Sprache ebenso wenig wie die portugiesische zwischen essbarem Fleisch (meat) und lebendigem Fleisch (flesh). Im Portugiesischen spielt auch die sexuelle Konnotation von ‚jemanden essen’ hinein – zu recht: wird doch von Brecht die Sexualität als „Furchtzentrum des Stückes“ beschrieben. Durchgängig spielt Brecht mit der kannibalistisch klingenden Ununterscheidbarkeit von Lebewesen und Lebensmitteln: So haben auch zwei von Fatzers Kameraden sprechende Namen: Koch & Kaumann. Am Ende des Stückes ist nicht klar, was mit Fatzer passiert, ob er von seinen Kameraden nur ermordet oder auch verspeist wird. In einer Notiz im Fatzer-Material im Archiv heißt es: „ein toter mann: / 170 pfund kaltes fleisch / 4 eimer wasser + 1 beutel / voll salz“. Die anthropophagische Lesart des Fatzer-Fragment speist sich aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, in dem die Barbarei der modernen Zivilisation deutlich wird in der Doppeldeutigkeit des Plurals großer Kriegshandlungen und der Tätigkeit des Metzgers: Schlachten. (Schon Montaigne hat in seinem Essay über die Kannibalen die überlegene Moral der Menschenfresser gegenüber den Vernichtungsfeldzügen der Europäer hervorgehoben.) Die Zizizizivilis- wurde auch vom jungen Brecht spöttisch besungen, der sich jedoch unmittelbaren Erfahrungen mit den Schlächtereien erfolgreich entziehen konnte. An einen Freund an der Front schrieb er: „Ich denke zuviel. (…) Ich würde eine Offensive vereiteln.“ Er, der Denkende, diente lediglich als Sanitäter im Lazarett. Doch als Dichter konnte er wie kaum ein andrer dem Schock des Ersten Weltkrieges eine Sprache verleihen, dem sprachlosen Trauma der Menschen in den ‚Materialschlachten’. Fatzer spricht vom ‚Massemensch’, vor dem er sich am meisten fürchte: drehpunktlose Personen. Diese dramatis personae können keine Charaktere mehr sein. Der Dramatiker Brecht interessiert sich auch nicht mehr für sie – ihn interessieren nur noch Typen: Typen wie Fatzer. Oder Lenin. Wie Lenin bricht Fatzer den Krieg ab. Doch entspricht dem Typus Lenin viel eher dessen Antagonist Koch, bzw. Keuner, der Denkende, der spätere Held seiner Keunergeschichten. Koch, bzw. Keuner beschäftigt Brecht mehr als der Egoist Fatzer, als er die Arbeit am Fatzer abbricht. Wie Fatzer den Krieg. Es ist vielleicht Brechts bester Text, ein „Jahrhunderttext“ laut Heiner Müller: In dem Essay Fatzer +/- Keuner beschreibt er diese Verschiebung in Brechts Stück als ‚Materialschlacht Brecht vs. Brecht’: zwischen dem jungen undisziplinierten Aussätzigen und dem alten weisen Lehrer: Anarchist vs. Funktionär.

1978 fertigte Heiner Müller eine Bühnenfassung von Fatzer an. Er las Fatzer unmittelbar als Kommentar auf den sog. „Deutschen Herbst“, die terroristische Ereignisse des Jahres 1977 (Schleyer-Kidnapping, Landshut-Flugzeugentführung, Todesnacht von Stammheim). Die Strategie der Entführung von Repräsentanten der Macht zur Freipressung inhaftierter Genossen wurde zum ersten Mal von Carlos Marighella erfolgreich angewandt in São Paulo 1967. Nach dem Militärputsch hatte er mit der Kommunistischen Partei Brasiliens gebrochen, die nicht vorbereitet war auf die Illegalität und war in den bewaffneten Untergrund gegangen. Er wurde nicht nur theoretisch Che Guevara’s Nachfolger, sondern auch praktisch: Nachdem er dessen revolutionäre Focus-Theorie für die Landguerilla zur Theorie der Stadtguerilla weiter entwickelte hatte wurde er wie jener in einen Hinterhalt gelockt und am 4. November 1969 in der Alameda Casa Branca in São Paulo erschossen. Doch sollte in den folgenden Jahren sein Mini-Handbuch des Stadtguerillero noch folgenreich werden –auch in den westlichen Metropolen, im ‚Herzen der Bestie’, wurde es als Handlungsanleitung gelesen. Dabei gleichen seine Ratschläge auf unheimliche Weise den Anweisungen, die Brecht den Städtebewohnern in seinem Handbuch gibt: „Verwisch die Spuren.“ Und: „Iß das Fleisch, das da ist! Spare nicht!“ Hier ist, wie Benjamin geschrieben hat, nicht nur die Existenzweise des Emigranten beschrieben, sondern auch des illegalen Kämpfers, der im eigenen Land schon wie ein Flüchtling zu leben gezwungen ist. Fatzer hat jenen ‚Krieg ohne Schlacht’ zum Thema, der sich im Untergrund der Städte fortsetzt, nachdem man das Schlachtfeld verlassen hat. Brecht hat wie kein andrer vor oder nach ihm die Lebensweise der Großen Städte als sozialen Krieg begriffen. Wie die Mitglieder des militanten Widerstands der 1960er Jahre wollen Fatzer&Co. den Krieg in die Städte tragen: Die Kaufhausbrandstiftung der RAF-Gründer Andreas Baader & Gudrun Ensslin in Frankfurt/M. waren getragen von dem Gedanken, das „Vietnam-Gefühl“ in den „Wohlstandsinseln“ zu verbreiten, als welche man auch Städte wie São Paulo betrachtete: Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt war der Titel jenes Buches, das Marighella’s Text in Deutschland verbreitete (mit einem Foto von São Paulo). „Der Kaufhausbrand war der verzweifelte Versuch“, so Müller, „die Zivilisation der Stellvertretung, der Delegierung des Leidens, zu provozieren, die Verlegung des Vietnamkriegs in den Supermarkt.“ Dabei ist das Beispiel Brasiliens nicht zu unterschätzen: So betrachtete Ulrike Meinhof die Militärdiktaturen in Lateinamerika (nach dem Putsch 1967 in Griechenland auch in Europa) als ‚präventive Konterrevolution’, gegen die man sich auch in Westeuropa bewaffnen müsse, da die Wiederkehr des Gespensts des Faschismus drohe. 1976 beging sie in Stammheim Suizid. Die Todesumstände wurden als ähnlich zweifelhaft empfunden wie die des regimekritischen Journalisten Vladimir Herzogs ein Jahr zuvor in einem brasilianischen Gefängnis: „Wer ermordete Herzog?“ war ein Schlachtruf des Widerstands in Brasilien, ein Künstler druckte den Satz hunderttausendfach auf Geldscheine. Für Müller war Meinhof eine zweite Rosa Luxemburg, die Mitglieder der RAF dagegen hielt er für die Widergänger des Jungen Genossen aus der Kalkgrube aus Brechts Lehrstück Die Maßnahme. In ihren konspirativen Kassibern im Hochsicherheits-Knast zitierten jene selbst Brechts berüchtigstes Stück: Es ist die Gewalt-Frage, die sie nicht loslässt, jene ‚Gretchen-Frage’ einer ganzen Generation: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“ heißt es im Fatzer-Material. Sie alle hatten das Beispiel von 1933 vor Augen: Damals war die KPD ebenso wenig auf die NS-Diktatur vorbereitet gewesen wie die Kommunistische Partei Brasiliens auf den Putsch. Statt einen Aufstand zu beginnen, ließ sich die Partei liquidieren, ihre Mitglieder starben zu Hunderttausenden in deutschen KZs und Folterkellern. Brecht selbst machte sich keine Illusionen über das kommende Unheil und verschwand am Tag des Reichstagsbrandes aus Deutschland. Noch im Exil sprach er sich gegen die KP-Strategie der Bildung einer breiten Volksfront aus für das Beispiel Fatzer: Diktatur einer kleinen revolutionäre Zelle, um ein Beispiel zu schaffen. Statt auf die Revolution zu warten losschlagen. Fatzer: „Zu schwach uns zu verteidigen, gehen wir zum Angriff über“. Brechts Worte sind bis heute Wahlspruch jeder radikalen Bewegung, die auf Taten drängt: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft hat schon verloren.“ Für Müller dagegen war das Schicksal der Fatzer-Keuner-Gruppe und der ‚Baader-Meinhof-Bande’ strukturell gleich: „Es gehört zur Tragik von militanten Gruppen, die nicht zum Zug kommen, dass die Gewalt sich nach innen kehrt.“ Die Gruppe ‚zerfleischt’ sich gegenseitig – eine weitere kannibalistische Vokabel für einen allzu häufig sich wiederholenden Vorgang innerhalb der Linken: Spaltung und Selbstzerstörung. Die Revolution frisst ihre Kinder, statt ihre Gegner. Fatzer-Chor: „ehe ihr Euer Bürgertum nicht vertilgt habt, werden Kriege nicht aufhören.“

Ende der 1960er Jahre ging nicht nur das eine Gespenst um in Europa, das Marx & Engels im Kommunistische Manifest beschwören, sondern viele: Die Toten der gescheiterten revolutionären Erhebungen am Ende des Ersten Weltkriegs, desertierende Soldaten, meuternde Matrosen und die aufständische Arbeiterinnen und Arbeiter in den hungernden Städten wurden mit den kämpfenden Massen in der Dritten Welt identifiziert: Che Guevara gekreuzigt ans Kreuz des Südens. Dort sah Müller den Geist der Partisanen auferstehen – der tote Hund am Rande der Autobahn kehrt als Wolf zurück. Durch ihr tragisches Scheitern sind die deutschen Terroristen, die sich mit den nationalen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Afrika, Asien identifizierten, zu Gespenster unsrer Gegenwart geworden: in Filmen wie Bernd Eichingers ‚Baader-Meinhof-Komplex’ spuken sie als bedauernswerte Opfer einer Verblendung herum, verführt durch die radikale Ästhetik der Gewalt des antiimperialistischen Befreiungskampfes. Diese Ästhetik können Europäer gar nicht verstehen, so Glauber Rocha, der prominenteste Vertreter des brasilianischen cinema novo, denn es ist eine ‚Ästhetik des Hungers’. Das zeigt das Beispiel Brecht: sein Diktum, dass das Essen vor der Moral kommt, hat sich unter umgekehrten Vorzeichen im westdeutschen ‚Wirtschaftswunder’ erfüllt: „Wenn die USA, nach dem Wort von Che Guevara, das Herz der Bestie sind“ meinte daraufhin Müller, „ist die BRD der Magen.“ Im Magen der Bestie jedoch spricht man nicht vom Schlachten. Brechts ‚Ästhetik des Hungers’, die schon bei der Uraufführung der Dreigroschenoper possierlich gewirkt hatte, verliert ihren Charme für die Bourgeoisie in Stücken wie Fatzer oder Die Mutter (nach Maxim Gorki): „Über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt / wird nicht in der Küche entschieden.“ So entwickelt sich die Mutter, da sie den Hunger ihres Sohnes nicht stillen kann, zur bewussten Klassenkämpferin: „Die Mutter ist die fleischgewordene Praxis“ schreibt Walter Benjamin. Wie Fatzer, der seinen Kameraden erklärt, dass sie als Soldaten denselben Feind haben wie ihre Gegner, die Soldaten der andren Seite, schafft es der Sohn, der Mutter klar zu machen, dass auch sie einen gemeinsamen Feind haben. Und dass zuerst das Essen kommt! In einem Land wie Brasilien, in dem das zentrale Reformprogramm der Regierung FOME ZERO (‚Null Hunger’) heißt, ist unmittelbar verständlich, was in Deutschland nur nach Moral klingt. Eben das ist der Grund, warum Brecht hier & heute nur noch ein Gespenst seiner selbst ist, ohne Stoff seines eignen Geistes, während er in der ‚Dritten Welt’ immer noch ein lebendig ist: ‚Frischfleisch’ für den Verzehr hungriger Gemüter. Für ein anthropophagisches Fest. „Im Zweifel ziehe ich den Kannibalismus der Lebenden dem Vampirismus der Toten vor.“ (Heiner Müller)

Während Brecht an Fatzer arbeitete, verfasste Oswald de Andrade das Anthropophagen Manifest: Der Weg zur brasilianischen Moderne könne nur durch den Rückgriff auf eine autochthone Kulturtechnik beschritten werden, nämlich durch die Einverleibung des ‚Heiligen Feindes’, „um ihn in ein Totem zu verwandeln“. (Dem hessischen Landsknecht Hans Staden wäre diese Ehre beinahe zu teil geworden, seiner Flucht verdanken wir den ersten Bericht aus der neuen Welt in Deutschland.) Wenig später wandte er sich von den eignen kulturrevolutionären Thesen ab und trat der Kommunistischen Partei bei. Zur selben Zeit bricht Brecht die Arbeit an Fatzer ab und nähert sich angesichts des erstarkenden NS-Faschismus der KPD an. Wie Fatzer und seine Kameraden wartet Brecht in seiner Berliner Wohnung auf die Revolution, um die drohende Konterrevolution abzuwenden. Das Scheitern der Revolution verhindert die Vollendung von Fatzer und führt zu Brechts „Emigration in die Klassizität“ (Heiner Müller). Mehr als zwanzig Jahre später, erst nach dem Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin kehrt Brecht zu seinem alten Material zurück. Nun beschäftigt er sich erneut mit Fatzer und seinen Kameraden, besonders Büsching: Noch einmal trieb ihn die Frage nach der Verwertung der Produktivkraft der Asozialen um: ‚Helden ohne Charakter’ wie Macunaima, ein „sehr brasilianischer Brasilianer“, laut Mario de Andrade, der den Roman zur selben Zeit schrieb wie sein Namensvetter Oswald das Manifest (basierend auf den ethnographischen Studien über Mythen der brasilianischen Indios des deutschen Forschers Koch-Grünberg, die er aus dem Deutschen ins Portugiesische übersetzte). Macunaima ist aus den tropischen Wäldern und macht nur das, wozu er Lust hat: „Ach, diese Faulheit!“ Trotzdem ist er als einziger fähig, Essen zu organisieren. Wie Fatzer lügt er und verführt die Frauen seiner Brüder, dennoch folgen sie ihm in die Stadt und wieder zurück in den Dschungel, wo sie den Faulpelz schließlich sich selbst überlassen. In der Verfilmung von Joaquim de Andrade von 1969 nimmt ihn eine Guerillera auf, die tagsüber in der Stadt Bomben legt, während er den ganzen Tag auf der faulen Haut liegt. Er ist ein fauler, versoffener Gott wie Baal und somit ein „virtueller Revolutionär“ à la Meckie Messer oder Johann Fatzer. Demgegenüber steht der Stratege Koch, der Moralist und Terrorist, der später zum antiheroischen Helden von Brechts Keuner-Geschichten wurde: Als schwäbischen Mr. Nobody hat ihn Lion Feuchtwanger beschrieben, ein Odysseus in den Höhlen der Großstadt, ein Bloom (Tiqqun). Laut Benjamin drohte dem Dichter Brecht gerade von dieser Figur die größte Gefahr. Eine Gefahr, die nur die Gesellschaft der outlaws bannen könnte. Diese tauchen am 17. Juni 1953 kurz auf und werden von den sowjetischen Panzern zerstreut. Seitdem bleiben sie verbannt aus dem neuen Staat, obwohl Brecht seinerzeit den großen Nutzen hervorgehoben hatte, die gerade die Darstellung des Asozialen für den kollektivistischen Staat haben könnte. Brecht selbst galt nach seiner Remigration in die ‚sowjetisch besetzte Zone’ (SBZ) einer ganzen Generation von Schülern und Söhnen als Weiser, Vater, Lehrer. Dieser Ehrfurcht ist grundsätzlich mit Misstrauen zu begegnen – wissen wir doch aus Freuds Totem & Tabu um die Sohnes-Horde, die erst den Ur-Vater erschlagen hat, nur um ihn dann aus schlechtem Gewissen in ein Totem zu verwandeln! Dem Anthropophagen Manifest zufolge ist das gut & richtig so. In Deutschland gilt daher die Devise: ‚Esst mehr Brecht!’ 1998, zu Brechts 100. Geburtstag haben sich die Gründer von andcompany&Co. diesem Motto verschrieben und ihn in Form eines großen Kuchens gegessen: ‚Brecht bis ihr kotzt!’ Das Kulinarische, das Brecht seinen späten Stücken wieder zuführte, kann nur durch eine anthropophagische Kur überwunden werden: Brecht zu gebrauchen, ohne ihn zu verschlingen, ist Verrat!

Auch Oswald de Andrade hat sich gegen Ende seines Lebens auf seine alten Ideen besonnen. Aber erst Jahre nach seinem Tod findet seine Theorie Widerhall bei einer neuen Generation, den Künstlerinnen und Künstlern der Tropicalia-Bewegung (der bildende Künstler Helio Oiticica, die Sänger Gaetano Veloso, Gilberto Gil, Tom Ze etc.), die sich 1968 anschickten, die Beatles, Rolling Stones, Jimmy Hendrix und andere Einflüsse der westlichen Welt radikal einzuverleiben. In Brasilien hat andcompany&Co. die Chance gewittert, ihren anthropophagischen Umgang mit Fatzer dadurch zu legitimieren, dass sie Brecht brasilianisiert haben durch eine dort kanonisierte Kulturtechnik, die ihre Appetite nicht etwa gestillt, sondern noch vergrößert hat! Für Brecht ist der Esser das Bild des radikalen Revolutionärs: „Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es!“ heißt es Vom armen BB. Die Geschichte jedoch scheut die ‚tabula rasa’, die leer gefressene Tafel. Das Versprechen der Tropen ist es, dass die Tafel nie leer bleibt, sondern dass das Essen immer wieder nachwächst. Dass der Mangel überwunden wird in einer nicht kontrollierbaren Fülle. Ein Versprechen, das Heiner Müller, als Zeuge des ‚real-existierenden Sozialismus’, gefangen in der Verwaltung des Mangels, nur als Utopie erscheinen konnte. Die Überfülle ist das Versprechen der Neuen Welt, das jedoch seit der ‚Entdeckung’ vor einem halben Jahrtausend nie eingelöst, sondern immer nur ausgebeutet wurde. So konnte die Banane, für die Konquistadoren noch die ‚verbotene Frucht’ des an der brasilianischen Küste wieder gefundene Paradieses, zum Symbol der Massen werden, welche die Berliner Mauer zu Fall brachten mitsamt des Systems des Mangelsozialismus. Im Westen ist die Banane ein Symbol für die moderne Kunst, besonders für die populärste Kunst der Warengesellschaft: die pop-art. Jene Kunst, welche die Gründer der Tropicalia-Bewegung so kongenial mit den populären Volkskulturen des Landes verbunden haben. Damit haben sie etwas eingelöst, wovon Brecht in Europa nur träumen konnte: eine neuen Verbindung von Volkstümlichkeit und Avantgardismus. Brecht heute kann nur ein Tropikalist sein. Ein trauriger Tropikalist. Denn trotz des Reichtums herrscht immer noch der Mangel, der Hunger und in den Städten die Unordnung. Wann wird die Zeit kommen, in der man als Nachgeborene auch in den Megalopolen des globalen Südens nicht mehr singen muss: „In die Städte kamen wir in der Zeit der Unordnung, als dort Hunger herrschte.“ So vergeht auch unsre Zeit, die auf Erden uns gegeben ward.

P.S. „Lasst Euch nicht verführen“, sang Brecht, der Verführer: „Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es gibt nichts nachher.“ Vielleicht hat Kunst ja mit der Tierwerdung zu tun, wie sie in Deleuze & Guattaris Kafka-Buch beschrieben ist, mutmaßte Müller im Zusammenhang mit Fatzer. Brecht konnte, bzw. wollte Kafka nicht verstehen: Er wollte nicht verstehen, dass die Käfer-Werdung Georg Samsas keine Tragödie ist, sondern eine Komödie. Es ist zum Lachen, nicht zu Weinen und nur lachend kann man die Verhältnisse ändern. Die Tier-Werdung ist die Suche nach einem Ausweg, einem Exit (Deleuze & Guattari) oder Exodus (Negri & Hardt). Eine Desertion. Ein Verrat an der eigenen Gattung, der noch grundlegender ist als der Verrat an der eigenen Klasse, den Brecht vollzogen hatte, als er den Angewohnheiten des Bedientwerdens und Befehlegebens überdrüssig wurde. Ein Verrat, der nicht angekündigt wird von einem Hahn, sondern von einem Papagei, der nichts mehr nachspricht, sondern etwas vorspricht: Er verrät uns einen neuen Namen, der nicht mehr der Namen ‚Brasilien’ sein wird, sondern der Name jener ‚fremden Heimat’, in der man noch nie war, die aber jeder kennt: Pindorama. Das ist, nach Ernst Bloch, die Utopie. Es ist die Utopie jener Deserteure, die sich nicht wieder auf die Sklavengaleere treiben ließen, sondern lieber auf der karibischen Insel zurückblieben, selbst auf die Gefahr hin, von den Einwohnern des Paradieses aufgefressen zu werden. Denn diejenigen, die dort an die Küste gespült wurden, „waren keine Kreuzfahrer“, so de Andrade: „Es Flüchtlinge von einer Zivilisation, die wir im Begriff sind aufzufressen, denn wir sind rachsüchtig wie Jabuti.“ Diesen „Flüchtlinge<n> aus den städtischen Sklerosen“, Städtebewohner wie Brechts Herr Keuner, rief er zu: „Den Kommunismus hatten wir schon. Die surrealistische Sprache hatten wir schon. Das goldene Zeitalter.“ Die Geschichte hat gezeigt: Koch, bzw. Keuner hat verloren und mit ihm das Modell der europäischen Revolution. Zeit also für die karibische Revolution, die de Andrade 1928 verkündet hat: „von der Französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution, zum technisierten Barbaren von Keyserling.“ Lauschen wir den Sirenengesänge der Anthropophaginnen Pindoramas wie Macunaima nach seiner Rückkehr in den Dschungel, bevor ihn die Wasserhexe frisst: Bindet Odysseus los, ihr Ruderer! Kümmert Euch nicht weiter um ihn, der als Keuner (Niemand) den kannibalistischen Riesen bezwungen hat, sondern öffnet Eure Ohren und lauscht den Gesängen – folgt ihnen und lasst Euch fressen – vielleicht werdet ja auch ihr in ein Totem verwandelt: Im Zeitalter des globalen Kapitalismus ist Brasilianisierung vielleicht eine Chance, Eure letzte Chance – TROPICALYPSE NOW!

Alexander Karschnia (seit dem Brasilien-Aufenthalt bloggt er unregelmäßig: alextext.wordpress.com)

 

Autor

Alexander Karschnia

Veröffentlicht

2010-07-10