Lektionen des Lecks

Ist die „Welt nach Cablegate“ eine bessere Welt? Der Theatermacher und Berliner Gazette-Autor Alexander Karschnia dechiffriert die Lage im Dialog mit Pop-Autor Douglas Coupland, Psychoanalytiker Sigmund Freud und Kapitalismuskritiker John Holloway. Dabei kommt Karschnia zu dem Schluss: Es reicht nicht, die Kruste der Geheimhaltung anzubohren, damit sich ein Strom der Wahrheit ins Meer der Öffentlichkeit ergießen kann.

Das vielleicht unheimlichste Phänomen des vergangenen Jahres ist das Leck: Erst leckte der Meeresboden im Golf von Mexiko vor der nordamerikanischen Küste, dann leckten die Geheimkabel der staatsinternen Kommunikation der USA. Hat sich die Welt seitdem verändert?

Der elegische Ton einer besseren Welt

Wenn ich mich recht erinnere, nennt Douglas Coupland in seinem Roman Girlfriend in a Coma die Abgenibbelten ‚Leakers’: Ausgelaufene. Damit sind Menschen gemeint, die von einer rätselhaften Seuche dahinrafft werden. Es trifft fast alle auf dem Planeten. Dieser Dystopie liegt der manifestartige Appell zu Grunde, eine „neue Kultur“ zu schaffen, die „irgendwas bedeuten könne“. Die Suche nach ‚bleibenden Werten’ führt in eine Sphäre, die scheinbar gänzlich losgelöst ist vom Treiben des Marktes, der Politik, der Medien. Statt „geil anzugreifen“ (Rainald Goetz: SUBITO), wird hier der elegische Ton einer besseren Welt angestimmt.

Gründet sich nicht auch die Welt nach Cablegate auf einer derart konservativen Revolution, deren Pop-Star der vermeintliche Revolutionär Julian Assange ist? Es soll an dieser Stelle nicht nur um die Kritik am ‚Personen-Kult’ gehen. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das folgende Paradox: Ein Mann, der selbst das Halbdunkel benötigt, um agieren zu können, fordert die totale Öffentlichkeit. Ein Dunkelmann der Aufklärung sozusagen, der offenbar Sigmund Freuds Optimismus teilt: ‚Wo Staatsgeheimnis war, soll Öffentlichkeit werden.’ Doch kann es wirklich nur darum gehen, unterdrückte Informationen ans Licht zu bringen? Sollte es nicht stutzig machen, wie eifrig die etablierten Medien darauf einsteigen?

Die Information wird zur Ware. Jede Woche bringt SPIEGEL(Online) einen Artikel zu Assange, WikiLeaks, etc. Der klassische ‚Enthüllungsjournalismus’ trumpft auf. Und das ‚Sturmgeschütz der Demokratie’ fühlt sich als ‚vierte Macht im Staat’ immer dann bestätigt, sobald irgendwo der Kopf eines Verantwortlichen rollt (wie anno 1962 bei der so genannten SPIEGEL-Affäre der des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß).

Macht im Staat vs. Anti-Staatsmacht

Eben das ist das Problem: Eine Macht im Staat zu sein und keine Gegenmacht, mitunter Anti-Staatsmacht. Zeitgenössische politische Theoretiker wie John Holloway aber fordern genau das – nicht länger das Spiel um die Macht im Staat mitzuspielen, sondern sie hinter sich zu lassen. Daher stellt sich die Frage, ob Assange’s Agentenkrimi wirklich subversiv ist oder nicht letztendlich stabilisierend wirkt. Nährt WikiLeaks nicht die alte Illusion der Verbesserbarkeit der Verhältnisse, während in Wirklichkeit die Verhältnisse nicht zu verbessern, sondern grundsätzlich zu verändern wären?

Diese Vorwürfe sind natürlich nicht neu, sondern so alt wie die Debatten um die repräsentative Demokratie. Wirklich interessant und neu wird es an dem Punkt, an dem die Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten und -magazinen endet und eine Selbstermächtigung stattfindet. Auch dafür gibt es im Falle WikiLeaks Anzeichen. Im weiten Feld der Assange-Unterstützer stehen inzwischen nicht mehr irgendwelche Ionenstrahlerangriffe auf paypal im Vordergrund, sondern das Bemühen, die publizierten Dokumente zu studieren und aufzubereiten.

Diese Arbeit nicht den Experten der Medien zu überlassen, ist von großer Bedeutung. Schließlich besteht das Problem der entströmten Datenmengen aus dem gehackten Leck darin, dass sie die alte Rolle des Gatekeepers, die Funktion der klassischen Medien als Filter, zurück ins Spiel bringen. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar: Es reicht nicht, die Kruste der Geheimhaltung anzubohren, damit sich ein Strom der Wahrheit ins Meer der Öffentlichkeit ergießen kann.

Wie erwecke ich mich selbst?

Das Hohelied der Arbeitsteilung, das in diesem Zusammenhang erhoben wurde, bezweckt eine Rückverwandlung der Informationen in Waren. Das Charakteristische der Ware ist, dass sie ihr Produziertsein zu verbergen weiß und den Produzierenden fremd und äußerlich gegenüber steht. Und diese Produzierenden, beziehungsweise Koproduzierenden und Mitwisser des Systems – das sind wir. Die Wahrheit ist nicht irgendwo ‚da draußen’, sondern wir sind immer schon mittendrin.

Wir wissen genau, was Vati & Mutti hinter verschlossenen Türen tun! Daher reicht es nicht aus, ES in ICH zu überführen und Geheiminformation in gesellschaftliches Wissen. Der Witz am Ödipus-Mythos ist ja, dass sich der Wahrheitssucher am Ende selbst erkennt. Hinter der alltäglichen Katastrophe des Kapitalismus stecken keine Verschwörer, okkulten Mächte oder Aliens, sondern wir. Beziehungsweise unser Tun, das uns abgespalten, entfremdet, verdinglicht als Waren gegenüber tritt – so fremd und faszinierend wie Assanges gesammelte Geheiminformationen.

Der kleine Kreis von Erretteten in Couplands Roman „Girlfriend in a coma“ scheitert an der Aufgabe, der untergegangenen Kultur eine „neue Kultur“ folgen zu lassen. Man verfällt erneut der Dekadenz und den Drogen. An die Adresse jeder selbsternannten Avantgarde von Berufsrevolutionären oder professionellen Hackern richtet sich daher Holloway’s Appell aufzuhören – aufzuhören, den Kapitalismus zu machen. Das klingt simpel und naiv. Doch in Wirklichkeit stellt es uns immaterielle ArbeiterInnen, postfordistische PerformerInnen, flexible FreelancerInnen vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe: Wie bestreike ich mich selbst? Und: Wie erwecke ich mich selbst?

Autor

Alex Karschnia